Überforderung der Umwelt
Von Martin Kowalewski
Bremen – Das Schicksal schlägt plötzlich zu. Teenager Lina (Mareike Fiege) hat die Szene in denkbar lebhafter Erinnerung und kann sie im Alleinspiel zum Leben erwecken. Ein Streit im Auto mit Linas Freund Marc nach einer mäßigen Party, dann klirrt es. „Auf Tod und Leben“, ein Gastspiel des Ensembles „Cactus Junges Theater Münster“, hat am Dienstagabend im Bremer Schnürschuhtheater das Publikum beeindruckt.
Das Kinderhospiz „Löwenherz“ mit Sitz in Syke hatte die Münsteraner anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Vereins für ein Gastspiel in Bremen gewonnen. Unter den etwa 50 Besuchern waren auch Eltern, die „Löwenherz“ nutzen. In Bremen betreibt der Verein eine ambulante Einrichtung.
Lina erwacht im Krankenhaus. Was ist mit Marc? Zunächst gibt es keine Auskunft, die ist Verwandten vorbehalten. Noch kämpfen die Ärzte um sein Leben, perfekt dargestellt in einer Gruppenchoreographie. Dann ist es vorbei.
Darauf ist Marcs Umfeld nicht vorbereitet. Der Vater Günther (Carsten Bender) wirkt friedlich bis apathisch, während er beschreibt, wie der Kopf seines Sohns auf dem Kopfkissen liegt. Weniger gefasst und verzweifelt reagiert Mutter Petra (Sarah Giese). „Das ist alles verkehrt herum. Ich habe ihn doch auf die Welt gebracht“, sagt sie.
Zu einer Streicher-Version der „Metallica“-Ballade „No-thing else matters“ kommt es zu einer bitter-verträumten Verarbeitung des Traumas. Mutter und Sohn (dargestellt von Ari Nadkarn, der sonst den Tod verkörpert) tanzen. Sie attackiert ihn verbittert. Er weicht aus. Der Sohn will sie greifen. Sie taumelt und kippt um, kann nur mit Mühe von ihrem Sohn gehalten werden. Etwas später kommt raus: Da waren Pillen im Spiel. Auch der Vater ist beschäftigt, kann sein Leid aber auf den Punkt bringen: „Den eigenen Tod stirbt man nur. Mit dem Tod der anderen muss man leben.“
Lange zieht sich die Debatte zur Gestaltung der Todesanzeige hin. Ein Elefant und ein Käfer schaffen es auf die Anzeige. Marc konnte gut malen. Wie soll die Beerdigung aussehen? Was hätte sich Marc gewünscht? Der Vater sagt nach einem Streit mit einer Tante: „Marc hätte sich ganz sicher nichts für seine Beerdigung gewünscht.“
Wo ist Marc jetzt wohl? Lina träumt sich eine Szene im Himmel herbei. Ein netter Empfang mit Tanz und Jazz-Musik. Alle sind happy. Der Körper wird am Eingang abgegeben. Damit es nicht zu langweilig wird, darf sich jeder noch ein paar Probleme aussuchen. Auf Erden gibt es auch jede Menge Probleme. „Am schlimmsten ist das verdammte Kaffeetrinken nach der Beerdigung“, seufzt Vater Günther.
Derweil macht sich Lina Vorwürfe. Wieder eine Traum- oder Tagtraumszene. Vor ihr steht Mutter Petra. Beide sprechen apathisch und synchron aufeinander zu: „Was war das Letzte, was Marc gehört hat? Du hast mit dieser dummen Schnepfe getanzt. Ohne Dich hätte er sich nicht so aufgeregt. Du bist schuld, dass er tot ist!“
Die Aufführung kommt ohne jeden Schnickschnack und fast ohne Bühnenbild aus. Letzteres beschränkt sich weitestgehend auf ein paar Tische zum Aufklappen, in die die Schauspieler ihre Kostüme ablegen, sobald diese nicht mehr gebraucht werden. Die sechs Darsteller sind souverän und treffsicher in den unterschiedlichen Rollen. Das Stück basiert auf Material, das sowohl von Schülern als auch von den Schauspielern selbst gesammelt wurde. Die Inszenierung wirkt authentisch, da alles direkt aus dem Leben kommt. Die Schauspieler überzeugen, indem sie ohne Künstlichkeit und Übertreibungen auskommen.
Die Zuschauer sind begeistert. Das Stück träfe genau ins Schwarze. Im Publikum sitzen auch Michael und Claudia Glugla aus Garbsen. Sie haben durch eine Krankheit ihren Sohn Nils verloren. „Das Ende war abzusehen. Vor dem Tod war es anders, danach kam das, was das Stück zeigt: die Überforderung der Umwelt“, sagt Michael Glugla. Die Familie hat auch das Hospiz „Löwenherz“ genutzt.
Was ist mit Marc? Seine Freundin Lina (Mareike Fliege, v.l.) bekommt im Krankenhaus von den Ärzten (Andreas Strietzel und Sarah Giese) keine Antwort. © Kowalewski